Unterwegs im Koreanischen
Unterwegs im Koreanischen

VOR ORT IM LAND - Sechste Etappe Seoul - 18. Tag

Ein geschenkter Tag

Dieser Tag beginnt mit einer äußerst irritierenden Erkenntnis: Unser Flug wurde um einen Tag verschoben. Zunächst bemerke ich den Ernst der Lage gar nicht, denn der Flug scheint ´nur´ um 2 Stunden vorverlegt. Doch später in der U-Bahn dämmert es: Wir wären kurz nach Mitternacht geflogen. Also morgen... Und das Abflugdatum hat sich nicht geändert... Also morgen. ... Packen und Aufbruch: also morgen... nicht ´heute´.

 

Zum großen Glück hatte ich aus Komfortgründen die Wohnung bis morgen gebucht, damit wir heute den Tag noch ausgiebig genießen können und erst am späten Nachmittag in Aufbruchstimmung verfallen müssen. Zum großen Glück. Andernfalls hätten wir jetzt eine ziemliche Rennerei. Das bleibt uns erspart. So nehmen wir unser Schicksal gelassen und (nach einer kurzen Phase der emotionalen Adaption an die neue Situation) auch dankbar an. Glück im Unglück. Ein geschenkter Tag. So wollen wir den auch nutzen.

 

Wir  hatten ohnehin vor, am heutigen Vormittag das ´War and Women´s Human Rights Museum´ zu besuchen. Da sind wir ordnungsgemäß für 10 Uhr angemeldet. Und dann sehen wir weiter, wie wir den Tag nutzen. Am ersten Tag fiel nicht nur die dritte Palastanlage ins Regenwasser, sondern auch das renaturierte Ufer des Cheonggyecheon, das seit wenigen Jahren als innerstädtischer Erholungsraum den Aufenthalt in der City aufwertet. Den haben wir für heute ebenfalls im Auge... Mal sehen.

Unsere Themen heute:

  • GESCHICHTE / ARCHITEKTUR / KULTUR: War & Women´s Human Rights Museum
     
  • LIFESTYLE: / ARCHITEKTUR: Cheonggyecheon Flussuferrenaturierung

War & Women‘s Human Right Museum

Die Trostfrauen im (unfreiwilligen) Dienst der japanischen Armee

 

Hier geht es allem voran um die Trostfrauen, die unter japanischer Herrschaft im Krieg gewaltsam zur sexuellen Bespassung der japanischen Soldaten eingesetzt wurden. Ohne Menschenwürde. Ohne Menschenrechte. Es ist eine Gedenkstätte für all jene unzähligen, namenlosen Trostfrauen, die heute Großmütter sind. Dafür wurde in einem unscheinbar im Wohngebiet gelegenen Gebäude ein spezielles Ausstellungskonzept entwickelt, das unmittelbar mit dem architektonischen Entwurf verwoben wurde. (Wise Architecture)

 

Das Museum will informieren, aufklären, erinnern und ein Gefühl der Solidarität mit allen Frauen dieser Erde herstellen, die ein Opfer sexueller Gewalt sind. Hier allem voran: strukturalisierter sexueller Gewalt in Kriegsgebieten.

 

MEMORY

Die erste Dauerausstellung (Memory) konzentriert sich auf die schmerzhafte, schwer traumatisierende Vergangenheit der Großmütter - ihre Geschichten. Ihren Leidensweg gehen wir nun in der bewusst gewählten Komposition und Gestaltung der Räume ein Stück weit empathisch mit ihnen. Anfangs sind die Räume dunkel, verwinkelt, ihre Abfolge irritierend, desorientierend und eng - ein Abbild der erlebten Furcht, der Fremde und der Isolation. Doch dann führen sie bei allem Leid doch ans Licht. Die Frauen sind - so gut sie konnten - durch ihren Schmerz gegangen, haben ihn kreativ aufgearbeitet und sind heute offensichtlich positive Menschen.

 

REMEMBRANCE

Im zweiten Ausstellungsteil begegnen sich Vergangenheit und Gegenwart (Remembrance). Nicht zuletzt durch ihr öffentliches Bekenntnis zu dem, was ihnen widerfahren ist, auch wenn der Rest der Gesellschaft dies (zunächst) gar nicht so genau wissen wollte - in der Sisterhood, in der Gemeinschaft, in ihrem Kampf um die Anerkennung der Ungerechtigkeit, und in ihrem Engagement für die Menschenrechte der Frauen weltweit.

Bis heute hat sich am Vergehen an den Trostfrauen noch kein Verantwortlicher japanischer Offizieller aufrichtig entschuldigt, d.h. die Schuld, zugestanden. Eine Reihe der Trostfrauen, die sich inzwischen geoutet haben, sind heute politisch engagiert. Und manch eine davon ist inzwischen verstorben. Jeden Mittwoch (!) findet seit 1992 (!) eine Demonstration vor der japanischen Botschaft in Seoul statt.

 

HEALING

Die dritte Dauerausstellung schließlich blickt in die Zukunft (Healing). Auch heute und anderswo fand und findet in Kriegsgebieten dieser Erde sexuelle Gewalt an Frauen statt. Frauen kommen dazu stellvertretend zu Wort. Eine Weltkarte informiert über die kritischen Gebiete. Zudem gibt es immer wieder Sonderausstellungen zu verschiedenen Themen. Aktuell: eine zu den Frauen Vietnams, die einiges an Leid durch die südkoreanische Armee (als neben den USA eine der am stärksten am Vietnamkrieg beteiligten) erfahren mussten.

Zur Begrüßung begegnet uns eine Wächterin: eine Katze hat den Eingang im Blick. Zum Schluss verabschieden uns zwei Tauben im Garten. Es ist ein besonderer Ort. (Die wenigsten, die dies lesen, werde ihn wohl je aufsuchen. Gut wäre es jedoch. Daher hier zumindest eine etwas ausführlichere bildhafte Dokumentation.)

 

Das Gebäude ist nicht nett, will nicht gefällig sein. Es ist weder groß, noch auffällig. Aber es ist da, Es irritiert. Es will bewusst verunsichern. Ein Gefühl erzeugen, das jenen jungen, traumatisierten Mädchen nachempfunden ist, die dies und noch viel mehr erlebten, als sie von zu Hause fort an die Fronten und zu den in immer größerem Radius der Kriegsgebiete stationierten (ebenfalls traumatisierten) Soldaten transportiert wurden - manche schon vergewaltigt, bevor sie überhaupt am Ziel ankamen. Die jüngste unter jenen Trostfrauen war noch längst keine Frau. Sie war erst 11. Viele andere waren ebenfalls noch minderjährig. Kinder.

 

Das Museum bildet ein Gefäß, in dem die Überlebenden ihre Geschichten erzählen und spürbar werden. Das Unfassbare wird fassbar - mittels einer gelungenen Mischung aus objektiven Fakten und subjektiven Geschichten. Manchmal ist auch eine der Großmütter persönlich da fürs Gespräch. (Heute nicht).

Ein Berg mit Wildblumen bewachsen - so lebten sie früher. Herausgerissen. Willkürlich. Unfassbar neue Erfahrungsräume. Erschreckende Erlebnisräume. Nachspüren. Mitfühlen. Sisterhood. Die Treppe des Lebens führt jedoch erstaunlicher Weise (wieder) ins Licht, in einen Raum der Leere. Die Überlebenden leben noch (einige von ihnen, längst nicht mehr alle. Sie wollen nun ihr verbliebenes Leben glücklicher leben. Ihre Jugend bekommen sie nicht wieder. Aber sie haben das Alter, die Jahre, die ihnen noch bleiben. Sie habe sich in der Gemeinschaft damals gegenseitig Mut gemacht und auch heute wieder in der Gemeinschaft ein stückweit aus der lebenslangen Isolation befreit. Trostfrau zu sein, war ein Makel. Ist es vielleicht in den Augen mancher immer noch. Doch jene Frauen von damals haben sich geoutet und stehen für sich und ihre Rechte heute ein. Der Prozess, da hin zukommen, war nicht leicht. Doch das, was hinter ihnen liegt, war schwerer.

 

KDramatische Einblicke in die Welt der Trostfrauen vermitteln "Eyes of Dawn" und "Herstory". (In meinen Reviews dazu wiederum gibt es dazu auch etwas mehr Hintergrundinfo.)

Cheonggyecheon

Ambitionierte Flussrenaturierung und urbane Revitalisierung


Wir holen uns, wie viele andere, einen Frappe-to-go oder Greentea-on-Ice und tragen den (nicht wie die vielen anderen ins Büro, sondern) an das Ufer des Cheonggyeocheon...

 

Der Fluss Cheonggyecheon erstreckt sich über 10,9 km in West-Ost-Richtung mitten durch die Hauptstadt. Nachdem er mit dem Jungnangcheon zusammengeflossen ist, münden die beiden in den Han und schließlich in das Ostchinesische Meer. Nach dem Koreakrieg und im Zuge der Bevölkerungsexplosion danach nahm die Verschmutzung des Flusses derart überhand, dass er von Ende der 50er Jahre an über eine Periode von 20 Jahren sukzessive überbaut wurde. Diktator Park Chung-hee ließ über dem Cheonggyecheon  ab 1968 im Dienste der autofreundlichen Stadt eine aufgeständerte Schnellstraße bauen. Der Cheonggye Expressway wurde 1976 fertiggestellt. 

 

Inzwischen jedoch setzt die Hauptstadt alles auf eine hohe Lebensqualität, ein gutes Stadtklima und eine Wiederbelebung von Kultur und Geschichte. Rund 300 Mio. US Dollar wurden daher ab 2003 in ein ambitioniertes, hochkomplexes Stadtentwicklungsprojekt investiert, dessen Zielvorgaben lauteten: die Flussrenaturierung und die Neugestaltung der Uferregion als hochwertige Erholungsraum. Dafür wurden eigens neue städtische Einrichtungen mit verschiedenen Schwerpunkten geschaffen, die hierfür intensiv zusammenarbeiteten.

 

Einerseits musste der Verkehrsfluss (auch ohne die aufgeständerte Schnellstraße) irgendwie weiter fließen können, andererseits wurden jedoch die historischen Brücken sowie der natürliche Flussverlauf wieder hergestellt. Dabei konnte ein Fußgänger freundliches Umfeld geschaffen werden. Die umliegenden Geschäfte wurden digitalisiert und modernisiert sowie direkt an das Uferambiente angebunden. Das komplexe Gesamtgefüge vernetzter Institutionen und Organisationen, die in das Projekt eingebunden waren, nannte sich Cheonggyecheon Kulturgürtel. Die Eröffnung erfolgte 2005.

 

Das Projekt entpuppte sich als Erfolg. Insbesondere das neue Habitat für Fische, Vögel und Insekten am heute recht sauberen Wasser ist eine wertvolle Bereicherung für die Stadt - mit 16 ha zusätzlichen innerstädtischen Grünflächen. Die Temperatur im unmittelbaren Umfeld konnte im Schnitt um 3,6 °C reduziert werden und selbst der Verlust der ehemaligen Schnellstraßen erwies sich letztlich als Gewinn: 2,3 Prozent weniger Pkws und dafür fast 5 Prozent mehr ÖPNV Nutzer... Das Projekt entpuppte sich zudem als Katalysator für weitere Revitalisierungsprojekte in der Innenstadt. Und manche bemängeln, dass sogar noch mehr möglich gewesen wäre... Jedenfalls...

 

Wir meinen, es funktioniert. Mit wenigen Schritten gelangen wir vom Trubel der Büroangestellten, die nach ihrer Mittagspause zurück an ihren Arbeitsplatz eilen, in ein ruhiges, entspanntes Habitat mit Gewässer, Grün, und ein paar weiteren Stadtbewohner*innen mit Flügeln...

Kulinarisches Fazit

Im Anschluss an das Frauenmuseum entdeckten wir im weniger hoch frequentierten Bereich des Univiertels ein leckeres kleines Restaurant, das auf kreativen Kimbap spezialisiert ist. Das, was Joka und ich hatten, war vorzüglich. Das Beste. Eonni hatte Buchweizennudeln. Ebenfalls lecker. Dazu gab es eine geschmackvolle Suppe, Kimchie und süßsauer eingelegten Rettich. 

 

Zur Kaffeezeit: mal wieder sündhaft leckere :-) Frappe für jene, die das lieben, und Grüntee auf Eis für die andere...

 

Am Abend  wurde das zum Abschluss vorgesehene Bulgogi Restaurant letztlich dann doch verworfen. Nach reichlich Shopping schien die Vorstellung, die bewährte PIzza vom netten Pizzabäcker nebenan zu holen, attraktiver - Take-out und zuhause bei ´Mr. Sunshine´ ganz gemütlich... das hat uns alle drei in Windeseile überzeugt.

Eonni hat das letzte Wort

 

Eonni hat sich ja gewünscht, dass wir auch mal Bus fahren. Das haben wir heute getan. Mehrfach. Das war angenehm. Der Fahrweg dauert zwar etwas länger, doch in der U-Bahn haben wir dafür manchmal mehr Laufwege... Um das Busnetz allerdings wirklich zu kapieren, würden wir noch ein paar Tage mehr benötigen.

 

Bei der Gelegenheit hier noch am Rande vier Beobachtungen zur U-Bahn, die ich an dieser Stelle reinmogle...

  1. In der U-Bahn tummeln sich (wie eigentlich fast überall) gebannt in ihre Handys starrende Menschen, dabei mit schnellen Fingern tippend. Aber selbst zur Rush-hour bin ich von Paris ganz anderes Gedränge gewohnt. Das bleibt hier alles im recht entspannten Modus...
  2. Außer den Ansagen und musikalischen Ankündigungen ist es eigentlich ruhig. Da die meisten in ihr Handy schauen und weil es eine Verhaltensregel für U-Bahnen gibt, die unter anderem vorschreibt, sich leise zu unterhalten. Das ist grundsätzlich eher angenehm, denn so stresst das nicht noch zusätzlich. 
  3. Die Tickets werden über eine T-Card bezahlt. Diese wird mit Geld aufgeladen und dann jeweils beim Betreten, Transfer und Verlassen automatisch gelesen. So berechnet das System die Fahrtrouten und ermittelt daraus den Tarif. Sehr komfortabel!
  4. Und noch etwas: Es gibt in den U-Bahnen ein interessantes Phänomen zu beobachten. Nicht nur das freihändige Schminken mit Eyeliner im Stehen während der hin und wieder ruckeligen Fahrt. Auch die Lyrik im öffentlichen Raum. Seit 2002 trennt die Wagons und die Plattform eine gläserne Trennwand, um gewollte und ungewollte Unfälle zu verhindern. Auf diesen Glaswänden sind nun Gedichte abgedruckt. 2008 wurde das Projekt durch das Kunst- und Kulturbüro der Stadtverwaltung lanciert. Tausende von Gedichten wurden eingereicht und auf Türen in mehr als 300 Stationen abgedruckt. Es ist ja eine gute und sehr alte Tradition auf der Halbinsel, Lyrik im öffentlichen Raum zu platzieren. Nun auch im 21. Jahrhundert. Die Lyrik kommt zu den so sehr beschäftigten Menschen. Ich hatte das bereits in Zusammenhang mit KLit am Anfang unserer Reise erwähnt. Nun lernte ich das aus selbst zu schätzen, als ich sie hin und wieder in der (meist sehr) kurzen Wartezeit las. Rein akustisch klangen sie durchweg sehr schön. Um sie wirklich zu verstehen fehlte allerdings (zumindest mir) die Zeit, denn schon kam die U-Bahn angerauscht... Es ist wohl eine schöne Idee. Doch ich kann nicht beurteilen, ob die oftmals von Amateuren verfassten Gedichte eine Qualität haben, die über die akustische Ästhetik der Wortwahl hinausgehen. Auch scheint mir die Mühe etwas vergeblich, da doch (fast) alle in ihr Handy starren... Dennoch. Eine schöne Idee: weniger Werbung, mehr Poesie. Von allen. Für alle.
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