Unterwegs im Koreanischen
Unterwegs im Koreanischen

My Liberation Notes

"My Liberation Notes" ist eine überaus erfreuliche südkoreanische Serienproduktion, da sie einfach mal so aus dem ganz normalen Leben relativ normaler Menschen um die 30 erzählt. Die leben nicht etwa in der Megacity Seoul (knapp 10 Mio. Einwohner) oder in Incheon (knapp 3 Mio. Einwohner), sondern in der weitläufigen Provinz Gyeonggi-do, die flächenmäßig den Großteil des Ballungsraums um Seoul ausmacht. Die Provinzbevölkerung macht rund die Hälfte der Bevölkerung der insgesamt mehr als 25 Mio. Einwohner der gesamten Metropolregion um die Hauptstadt Seoul aus. Und das wiederum entspricht ca. der Hälfte der Bewohner*innen Südkoreas. Ein Einblick in die Lebenswelt der Provinzbewohner*innen bietet somit zugleich einen Einblick in ein gutes Stück aktueller südkoreanischer Lebensthemen. (Für jene, die gerne im Koreanischen unterwegs sind, wie mich, kommt das einem Jackpot gleich...)

 

Das KDrama präsentiert sich als Netflix-Co-Produktion in gewisser Weise für ein internationales Publikum ´aufgehübscht´ - von den typischen und eher speziellen Elementen Makjang, Slapstick, Glitzer&Glamour der Jaebeol, oder traumatischen Kindheitsgeheimnissen sieht man hier nichts. Einfach das Leben Tag für Tag wie überall. Ohne spektakuläre Höhen und Tiefen. Als hätte jemand blind in einen Topf voller Adressen aus einem willkürlichen Ort am äußeren Rand des Ballungsraums von Seoul gegriffen und dann einfach mal eine Zeitlang das Scheinwerferlicht und die Kamera auf die dort lebende Familie gerichtet. Es könnte prinzipiell jede Familie sein, die im Umfeld der Endstationen des Seouler U-Bahnnetzes lebt. Das wiederum identifiziert das KDrama trennscharf als speziell südkoreanisch. Die Geschichte ist außerdem in bewährt behutsamer, vielschichtiger Erzählweise mit bewusst reduziertem Tempo und gefühlvollem Raum für Zwischenräume inszeniert. 

 

 

Randnotiz: Provinzielles Leben im Ballungsraum um die Hauptstadt Seoul.

Die fiktive ´Dangmi Station´ ist eigentlich die ´Seonghwan Station´ der Line 1. Entscheidend ist die Tatsache, dass die meisten Menschen, die in Seoul arbeiten, sich (zunehmend) ein Leben in der City nicht leisten können und für das tägliche Pendeln an ihren Arbeitsplatz ca. 2 Stunden in Kauf nehmen. Mit den abendlichen Firmenessen und kollegialen Come-Togethers wird ein Tag dann sehr lange. Viel Zeit bleibt nicht für ein eigenes Leben außerhalb der Arbeit. Es ist zwar in mehrfacher Hinsicht bequem, bis zur Eheschließung im Elternhaus wohnen zu bleiben, doch damit schrumpft die frei zur eigenen Verfügung stehende Zeit noch weiter zusammen. Insbesondere, wenn die Eltern noch ein bisschen Landwirtschaft betreiben und Mithilfe der ´Kinder´ hier und da schon mal erforderlich ist. Stadt und Land treffen im harten Kontrast aufeinander. Jeden Tag. Dementsprechend prallen auch unterschiedliche Lebensentwürfe aufeinander, die mal eher in ein temporeiches, hippes Stadtleben oder eher in ein ländliches, entschleunigtes Provinzleben passen. In der Realität bedarf es jedoch eher neue Zwittervarianten, die als bewegliches Gelenk zwischen den beiden gleichermaßen alltagsrelevanten Realitäten funktionieren - Stadt und Land. 

Da kann man/frau schon mal über den Sinn des Lebens nachdenken wollen. Über Ziele, die man/frau sich gerne stecken möchte. Was ist das Lebens? Was bietet es für mich? Was möchte ich? Oder besser doch nicht nachdenken? Es ist an den jungen Menschen dieser und der folgenden Generation, sich neue, reelle Haltungen zum Leben und Entwürfe für ihre Zukunft im Südkorea der 2020er ff zu erstasten, zu erstolpern, zu erschließen.

 

 

In diesem Spannungsfeld schippert "My Liberation Notes". Das ist auch das einzig spannende. Denn Spannung steht ausdrücklich nicht auf dem Programm. Im Fachjargon des Theater- und Literaturorbits nennt sich das dann "Slice of Life" - eine Erzähltechnik, die einen Ausschnitt schlichten Alltags begleitet, ohne dramaturgisch Spannungsbögen zu inszenieren oder Höhepunkte zu suchen. "My Liberation Notes" bleibt diesem Genre treu und konzentriert sich dabei auf die Weisheiten, Fragen und Erkenntnisse, welche die Protagonist*innen im Verlauf prozessieren - mal still und leise vor sich hin, mal im Gespräch mit Freunden.

 

Im Mittelpunkt stehen vier Protagonist*innen, die praktisch alle zusammen im provinziellen Seouler Vorort leben. Drei sind Geschwister und arbeiten in Seoul, der vierte ein Fremder, der dem Vater als Hilfskraft in der Schreinerei und auf dem Feld zur Seite steht, mit der Familie zusammen isst und im Nachbarhaus wohnt. (Ein fantastischer Son Seok-ko als undurchschaubarer Fremder, sowie Lee Min-ki, Kim Ji-won und Lee-El als sehr unterschiedliche Geschwister, präsentieren die Bandbreite alltäglicher Gefühlwelten in wunderbar eindringlicher Weise.) Alle vier ringen auf ihre jeweils ureigene Art mit der Frage, was Freiheit und Lebensqualität denn unter den gegebenen Umständen für sie bedeuten könnte. Beförderung? Geld? Erfolg? Ein Auto? Ein/e Partner*in? Ehe? Familie? Eine eigene Wohnung? In den Mittelpunkt rückt ebenfalls der Aspekt, von jemanden verehrt werden zu wollen. Zu respektieren und respektiert zu werden. Angebetet zu werden ... wie kann man/frau gegenseitige Wertschätzung ausdrücken? ... Damit man/frau sich wertvoll fühlt. Damit sich das eigene Leben wertvoll anfühlt. Dem einfach mehr Raum geben. Das wäre schön... 

 

Kurzum. Dafür, dass es hier um das Leben von vier jungen Menschen in der Blüte ihrer Jahre (+/- 30) geht, ächzen sie doch sehr unter dem Druck, den die Konkurrenz in der Arbeitswelt, die schillernden Versprechen moderner Lifestyle-Industrie, sowie die Ansprüche der Gesellschaft und Familientraditionen auf sie ausüben. Wo bleibt das Leben? Ist dies das Leben? Das könnte alles ziemlich deprimierend sein. Doch erstaunlicher Weise ist es das nicht wirklich, denn die Protagonist*innen schaffen es, leise, eindrücklich und mit sanfter Intensität ihrem Leben doch so etwas wie Würde zu verleihen. Sie gehen den Weg, der vor ihnen liegt und hinterlassen dabei ihre persönliche Note, die klein aber fein Farbe und Wärme auf ihrer Spur hinterlässt. Die Folgen gehen so dahin, wie das Leben selbst. Die Tage gleichen sich, und doch ist jeder neu und anders als der zuvor. Dabei wird das Glück minutenweise gesammelt. Und letztlich ist das Leben dann doch schön. Lebenswert. Unverwechselbar. Dabei steigt die Qualität zudem mit dem Grad der Wahrhaftigkeit, dem sie ihrem (und wir unserem) Leben verleihen. Das ist dann doch eine erfreulich progressive Botschaft. Nicht nur dafür gebe ich für "My Liberation Notes" das Prädikat ´besonders wertvoll´. 

나의 해방일지 - Naui Haebangilji

Lit.: Mein Befreiungstagebuch 

 

2022, 16 Episoden 

 

Hauptdarsteller*innen:

-Son Seok-koo

-Lee Min-ki
-Kim Ji-won
-Lee El
-Chun Ho-jin
-Lee Ki-woo

 

Plot:

Yeom Chang-hee, Yeom Mi-jung und Yeom Ki-jung leben zusammen noch bei ihren Eltern in der ländlichen Provinz irgendwo im Ballungsraum von Seoul. In Sanpo. Ihre Arbeitsplätze haben sie jedoch in Seoul. Der eine hofft auf seine Beförderung, die andere auf eine feste Anstellung, die dritte auf eine wärmende Liebesbeziehung, spätestens bis der kalte Winter kommt. Jeden Tag pendeln sie mehrere Stunden hin und her zwischen Haus und Arbeit. Wenn die Abende in der Stadt zu lang werden, dann teilen sie sich manchmal ein Taxi. Ansonsten verbringen sie viel Zeit in der (U-)Bahn. An ihren freien Tagen helfen sie ihren Eltern auf dem Feld. 

 

Der Vater hat eine Schreinerei und beschäftigt dort Herrn Gu, der eines Tages aus dem Nichts auftauchte und von dem niemand weiß wer er ist oder woher er kommt. Der Vater nahm ihn auf, denn offenbar gefällt ihm dessen wortkarge Art, die sehr der seinen entspricht. Herr Gu wohnt nebenan in einem Haus, teilt jedoch die Mahlzeiten mit der Familie und hilft ebenfalls auf dem Feld, wenn es ansteht. Seine Freizeit strukturiert er im Wesentlichen mit Soju.

 

Chang-hee würde gerne einen kleinen Supermarkt in Seoul übernehmen, doch ihm fehlt das Kapital. Ki-jung lernt über ihre Freundin Jo Tae-hoon, einen alleinerziehenden Vater, kennen. Und Mi-jung, die nur einen befristeten Vertrag hat und von ihrem Chef gedisst wird, hat einen schweren Stand im Unternehmen. Da die Unternehmenskultur vorsieht, dass alle Mitarbeitenden einem Club beitreten, gründet sie schließlich mit 2 weiteren Außenseiter*innen den Befreiungs-Club. Dem gehört auch Tae-hoon an. Die drei fangen an, ganz explizit und bewusst ihr Leben und ihre Definition von Glück zu hinterfragen. Sie versuchen sich mental und konkret von unnötigem Ballast zu befreien. In diesem Zusammenhang nähert sich Mi-jung Herrn Gu und die beiden suchen einen gangbaren Weg, einander Wertschätzung und so auch ihrem eigenen Leben einen Wert zu geben.

 

Ganz ohne Drama geht es natürlich auch in "My Liberation Notes" nicht, denn Herrn Gu´s Vergangenheit klopft irgendwann an die Tür, die Beziehung mit Alleinerziehenden ist nie leicht, auch für Ki-jung nicht, und Chang-hee muss letztlich einige Entscheidungen in seinem Leben ganz grundsätzlich überdenken und neu entscheiden...

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