VOR ORT IM LAND - Erste Etappe Incheon - 3. Tag
Impressionen zur Buchstadt – und ein Blick hinter die Kulissen
Hier ein paar Eindrücke zur Paju Book City – und eine Ergänzung für all jene, die es noch ein bisschen genauer wissen wollen …
Verstehen lässt sich die Idee einer Buchstadt eigentlich nur, wenn man die große Bedeutung des Buches in Korea für Land und Leute begreift. Aus diesem Grund folgt hier ein kleiner Exkurs zur KLit(erature) – also zur koreanischen Literatur und ihrer Rolle in der Gesellschaft.
Außerdem: ein paar Details zum – wie ich finde – sehr speziellen Stadtentwicklungsprozess in Paju. Und schließlich eine Reihe von Impressionen jener modernen (überwiegend südkoreanischen) Architektur, die in den vergangenen zehn Jahren hier entstanden ist.
Übersicht:
Literatur als Spiegel der koreanischen Seele
Das koreanische Volk reflektiert seine Wunden, seine Emotionen, sein Selbstverständnis, seine Hoffnungen und seinen Widerstand in der Literatur.
Die Faszination für Bücher ist untrennbar mit der Kraft emotional bewegender Geschichten verbunden.
Literatur und Kultur gehen in allen Ländern dieser Erde Hand in Hand.
Gedichte, Lieder, Romane, Essays, Comics und Theaterstücke sind identitätsstiftend und identitätsstärkend – in Südkorea sogar noch mehr als anderswo.
Der Buchdruck wurde dort bereits rund 200 Jahre vor Gutenberg erfunden.
Das älteste existierende, gedruckte Buch ist das Jikji, das 1377 in der Goryeo-Ära entstand.
Ob überlieferte, konfuzianisch geprägte Werke und volkstümliche Texte aus den Zeiten der Monarchien oder moderne Literatur seit der japanischen Kolonialisierung – in der Japan den Koreaner*innen sogar ihre Sprache nehmen wollte – über den Koreakrieg, die Militärdiktatur, die Industrialisierung, den Turbokapitalismus, die Globalisierung bis hin zur Digitalisierung:
Die koreanische Literatur ist ein Spiegel der kollektiven Erfahrung und des Widerstands.
Seit den frühesten Kommentaren koreanischer Gelehrter und Poet*innen zur chinesischen Poesie im „Buch der Lieder“ bewegt sich koreanische Literatur im Spannungsfeld von Ästhetik und sozialem Miteinander.
Die Schönheit des Wortes und seines Klangs dient zugleich als Code für Kritik und Reflexion.
Selbst die japanische Kolonialherrschaft hatte einen paradoxen Effekt: Die künstlerischen Ausdrucksformen des Widerstands florierten – und finden bis heute neue Formate.
Die Zahl der Veröffentlichungen steigt stetig – darunter nicht nur Romane, sondern auch viele Gedichtbände, Essays und Theaterstücke. Das Interesse an internationaler Literatur ist ebenfalls groß: Rund 21 % der Neuveröffentlichungen im Jahr 2018 waren übersetzte Werke, insbesondere aus Japan, Großbritannien und den USA, gefolgt von Frankreich und Deutschland.
Aktuelle Trends: Feminismus und neue Stimmen
Besonders im Trend liegt derzeit das Thema Feminismus.
Die Bestsellerlisten werden regelmäßig von entsprechenden Titeln angeführt. Zu den Stars unter den Autorinnen zählen Cho Nam-Joo und Jung Se-Rang.
Das Buch „Kim Ji Young, geboren 1982“ und der Kult, der sich darum entwickelt hat, stehen wie kaum ein anderes Werk für den enthusiastischen Aufbruch junger Frauen, die sich ein anderes Leben und einen neuen gesellschaftlichen Umgang wünschen.
Auch Autorinnen wie Kim Soom, die sich dem Thema der Trostfrauen widmet, oder Kim Dong-Shik mit ihren Kurzgeschichten „Gray Human Beings“, sowie die wachsende Zahl an Büchern zur Homosexualität prägen den neuen literarischen Zeitgeist.
Neue Kanäle für alte Gedanken
Der klassische Buchdruck mag weltweit unter der Digitalisierung leiden – doch die Publikation ästhetischer, kritischer, bewegender und inspirierender Gedanken bleibt davon unbeeindruckt. Die Schöpferkraft ist weiterhin aktiv – und findet neue Kanäle: Onlinehandel, ePub, WebNovel, WebToon und mehr.
Eine südkoreanische Spezialität mit langer Tradition ist die Veröffentlichung von Gedichten im öffentlichen Raum. Bis heute begegnet man Gedichten völlig unvermittelt – am Fenster von Gaststätten, in Pensionen, auf Spazierwegen, an Türen in der U-Bahn.
Das Arts & Culture Bureau der Stadtverwaltung Seoul dokumentierte seit 2008 Tausende von Gedichten – von Laien und Profis – allein an den gläsernen Sicherheitstüren der U-Bahn, die den Bahnsteig vom Gleisbereich trennen. Wenn die Menschen keine Zeit für Gedichtbände haben, dann kommen die Gedichte eben zu den Menschen.
Es gab sogar Anträge, Werbung in der U-Bahn durch Poesie zu ersetzen. Rund 3.000 Bürger*innen reichten daraufhin ihre Werke ein – anonym ausgewertet durch eine Jury.
Paju Book City – Visionäre Stadt für Bücher und Begegnung
In der Paju Book City konzentrieren sich nicht nur eine beeindruckende Zahl koreanischer Verlagshäuser – auch Coffeeshops, Restaurants, charmante Läden und kulturelle Einrichtungen säumen die Straßen. All das eingebettet in eine naturnah durchchoreografierte Landschaftsplanung, die bewusst auf Harmonie zwischen Architektur und Umgebung setzt.
Die ursprüngliche Idee geht auf eine Initiative mehrerer visionärer Verleger aus dem Jahr 1989 zurück. Sie verstanden ihr Projekt als Aufbruch in eine neue Zeit – geprägt von Transparenz, Demokratie und kreativem Zukunftsgeist. (1988 markiert die ersten freien Wahlen nach Jahrzehnten der Diktatur.) Mit dem Beginn der Demokratie fiel auch die Zensur. Eine neue Ära sollte beginnen.
Ziel war es, eine für das Verlagswesen attraktive Infrastruktur zu schaffen – mit Synergien und gemeinschaftlich nutzbaren Einrichtungen. Dazu zählen unter anderem:
eine Lagerhalle für bis zu 30 Millionen Bücher
ein leistungsstarkes Vertriebszentrum mit einer Kapazität von bis zu 440.000 Bänden pro Tag
das Asia Publication Culture & Information Center, das Verlage bei Buchmessen und Übersetzungen unterstützt
Die Architektur sollte ausdrücklich naturverträglich und im menschlichen Maßstab gestaltet sein. Ein Flusslauf zieht sich durch das urbane Setting – Reiher und Zugvögel lassen sich hier nieder. Nationale und internationale Architekt*innen haben ein Kaleidoskop überschaubarer Baukörper entworfen, die ein modernes Selbstverständnis verkörpern. Eingebettet in einen Masterplan, der Komplexität, Gemeinschaftlichkeit, Nachhaltigkeit und Ökologie zu seinen zentralen Maximen erklärt.
Dem modernen Städtebau liegt das Konzept der traditionellen koreanischen Architektur zugrunde: Räume besitzen zunächst keine festgelegte Funktion, sondern schaffen ein infrastrukturelles Gefäß, das vielfältige Nutzungsoptionen eröffnet. Leere Räume und Freiflächen spielen dabei eine zentrale Rolle – stets in Abstimmung mit der lokalen Topografie, die in Paju durch Flussläufe, Erhebungen und sumpfiges Terrain geprägt ist.
Youlhwadang Book Museum
florian beigel and ARU
Bücherkunst mit kultureller Tiefe
Youlhwadang veröffentlicht insbesondere extrem hochwertig hergestellte Bücher rund um die koreanische Kultur. Im dazugehörigen Museum lagern über 40.000 Werke – von der Joseon-Ära bis heute. Der Direktor sammelt seit über 40 Jahren zudem alte chinesische Bücher, kunstvolle Bildbände und vieles mehr.
Rainbow Publishing Headquarter
Architektur: DaeWha Kang Design (Sitz: London)
Ein begehbares Archiv – Architektur als Zeitreise
In dem viergeschossigen, schlichten Volumen finden sich die Verlagsbüros, eine Galerie sowie die Wohnung des Verlegers. Charakteristisch ist die geschossübergreifende Glasöffnung: ein Fenster, das den Blick freigibt auf ein speziell angefertigtes, viergeschossiges Bücherregal aus Holz und Stahl – ein begehbares Archiv der veröffentlichten Werke.
Dabei handelt es sich überwiegend um Biografien von Koreaner*innen seit 1918. Die Bücher sind nach Geburtsjahr der Personen von unten nach oben geordnet. Der Treppenaufstieg wird so zu einem Marsch durch 100 Jahre koreanischer Geschichte – von der ausgebeuteten japanischen Kolonie bis zur globalisierten Hightech-Nation.
Die Gebäudehülle besteht aus Backstein mit variierender Tiefe von etwa 6 bis 10 cm. Ihre Optik ist inspiriert vom Vulkangestein der Insel Jeju. Der Rhythmus erinnert an geologische Schichtungen – ein symbolisches Äquivalent zur Zeitgeschichte dieses Planeten. Mit minimalen Mitteln entsteht so eine maximale ästhetische Dramaturgie für einen schlichten Kubus.
Life & Power Press Cultural Topography
Architektur: Unsangdong Architects
Ein Gebäude für Verlagsarbeit, Seminare, Fortbildung und Veranstaltungen. Raum für Menschen im Miteinander, für Bücher und Visionen. Ein Gefäß für neue Erfahrungen. Eine Topografie für Begegnung und Austausch, zusammengesetzt aus fließenden, homogenen Räumen. Durchlässig, offen für die Vorstellungskraft – eine Leinwand, das Leben reflektierend. Zwischenräume zwischen Abstraktion und Erdung. Von außen lässt sich all das nur erahnen...
Borim Books Publishing & Marionettenheater
Architektur: Suh Hailim (eine der wenigen Architektinnen in Südkorea) + Kim Junsung
Spezialisiert auf Kinderbücher. Im Gebäude, hinter der markanten, expressiven Fassade aus Stahl und Glas – mal nach innen, mal nach außen geknickt – befinden sich ein Marionettentheater für Kinder, eine Galerie für Kinderbücher sowie ein Kleinkinder-Buchladen mit kniehohen Tischen.
Nanam Publishing House
Kim Young Sub, Kunchook-Moonhwa Architects and Engineers
Schlichte, geschwungene Betonwände waren im Nu bewachsen und hüllen das – ein wenig wie aufgeblättert anmutende – Verlagsgebäude in ein natürliches Farbenspektakel, das sich mit dem Jahresverlauf wandelt. Derzeit zeigen sich die Betonwände in sattem Grün.
White Cube Matrix: Paju Kindergarten
Architektur: UnSangDong Architects
Da wir eine Erzieherin im Team haben, interessiert uns nicht nur die Architektur fürs Buch, sondern auch die Architektur fürs Kind. Die gibt es in Paju ebenfalls...
Kindergarten als Raum für Kinder. Kinder wiederum wachsen erst heran – ihre Fantasie und das, was sie sehen, sind eng miteinander verschlungen. Räume sind noch nicht fixiert. Es gibt noch viel Raum für das Unvorhersehbare.
Ein weißer Kubus als dreidimensionales Gefäß, als Idee der Zelle. Wie jene, die in den Kindern erst noch heranwachsen und sich vernetzen, bilden diese kubischen Zellen – verschränkt und verschachtelt – ein Konglomerat, das nicht „fertig“ ist.
Der weiße Kubus steht zugleich für Abstraktion. Das Gebäude wird zum Spiegel einer abstrahierten Komposition aus Mensch, Natur, Kultur, Kunst, Materie und Geist. Im Innern dieser Zellen bietet der Kindergarten eine Vielfalt an Medien zur Stimulation der kindlichen Imagination – zum Malen, Anfassen, Anschauen, Hören und Fühlen. Und unterschiedlich gerahmte Ausblicke und Sichtbezüge zur Umwelt. Draußen: ein Spielplatz im Schatten der Bäume am Fluss.